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Eine 20-Millionen-Dollar-Strafe gegen den Entwickler von Genshin Impact markiert einen Wendepunkt im Kampf gegen manipulative Praktiken in Videospielen. Während Lootboxen und süchtig machende Design-Mechanismen weltweit Millionen Kinder und Jugendliche gefährden, reagieren Behörden in den USA und Europa mit verschärften Regulierungen.
Im Januar 2025 verhängte die US-amerikanische Federal Trade Commission (FTC) eine der bisher höchsten Strafen gegen einen Videospiel-Entwickler. Cognosphere, das Unternehmen hinter dem beliebten Spiel Genshin Impact, muss 20 Millionen Dollar zahlen und darf künftig keine Lootboxen mehr an Jugendliche unter 16 Jahren verkaufen – zumindest nicht ohne ausdrückliche Zustimmung der Eltern [1]. Der Vorwurf: Das Unternehmen habe Kinder und andere Nutzerinnen und Nutzer über die tatsächlichen Kosten von In-Game-Käufen getäuscht und die Gewinnchancen bei Lootboxen verschleiert. Diese Entscheidung ist mehr als nur eine Strafe für ein einzelnes Unternehmen – sie markiert einen Paradigmenwechsel im Umgang mit einer Industrie, die jährlich Milliarden mit Mechanismen verdient, die Expertinnen und Experten als manipulativ und potenziell schädlich einstufen.

Was sind Lootboxen – und warum sind sie problematisch?

Lootboxen sind virtuelle Kisten oder Pakete in Videospielen, die zufällige Belohnungen enthalten. Spielerinnen und Spieler kaufen sie mit echtem Geld oder virtueller Währung, wissen aber vorher nicht, welche Gegenstände sie erhalten werden. Das Prinzip ähnelt dem von Überraschungseiern oder Sammelkarten-Boostern – mit einem entscheidenden Unterschied: Die Inhalte existieren nur digital und haben oft keinen realen Wert außerhalb des Spiels. Trotzdem können einzelne Lootboxen mehrere Euro kosten, und die Chancen auf seltene, begehrte Gegenstände liegen häufig im Promillebereich.
Die Problematik liegt in der Kombination aus drei Faktoren. Erstens nutzen Lootboxen dieselben psychologischen Mechanismen wie Glücksspiel: variable Belohnungen, die das Belohnungssystem im Gehirn besonders stark aktivieren. Studien zeigen, dass diese Mechanismen ähnliche neuronale Reaktionen auslösen wie Spielautomaten [2]. Zweitens richten sich viele Spiele mit Lootboxen gezielt an Kinder und Jugendliche, deren Impulskontrolle noch nicht vollständig entwickelt ist. Drittens verschleiern viele Spiele die tatsächlichen Kosten durch mehrstufige virtuelle Währungen: Spielerinnen und Spieler kaufen zunächst “Gems” oder “Coins” mit echtem Geld und verwenden diese dann für Lootboxen – ein System, das es schwer macht, den Überblick über die Ausgaben zu behalten.

Die dreifache Gefahr: Glücksspiel, Manipulation und Sucht

Die Gefahren von Lootboxen und verwandten Mechanismen lassen sich in drei Kategorien einteilen. Die erste ist die Nähe zum Glücksspiel. In Österreich hat das Landesgericht Wien in zweiter Instanz entschieden, dass Lootboxen als illegales Glücksspiel zu werten sind [3]. Die Begründung: Es handelt sich um einen Geldeinsatz mit ungewissem Ausgang – die klassische Definition von Glücksspiel. In mehreren Fällen konnten Betroffene bereits Zahlungen für Lootboxen zurückfordern. Eine höchstgerichtliche Entscheidung, die Klarheit für ganz Österreich schaffen würde, steht noch aus, wird aber in absehbarer Zeit erwartet.
Die zweite Gefahr sind sogenannte Dark Patterns – manipulative Design-Strategien, die Nutzerinnen und Nutzer zu ungewollten Handlungen verleiten. Dazu gehören etwa zeitlich begrenzte Angebote, die Druck erzeugen (“Nur noch 2 Stunden!”), soziale Vergleiche, die Kaufanreize schaffen (“Deine Freunde haben schon…”), oder absichtlich komplizierte Kündigungsprozesse. Eine wissenschaftliche Studie aus dem Jahr 2025 analysierte die Verbreitung von Dark Patterns in Mobile Games und fand heraus, dass diese Praktiken besonders häufig in kostenlosen Spielen eingesetzt werden, die sich durch In-App-Käufe finanzieren [4]. Kinder sind für solche Manipulationstechniken besonders anfällig, da ihnen oft die Erfahrung fehlt, diese zu erkennen.
Die dritte und vielleicht gravierendste Gefahr ist die Entwicklung einer Gaming Disorder – einer offiziell anerkannten Verhaltensstörung, die seit 2019 in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation aufgeführt ist. Aktuelle Meta-Analysen zeigen, dass weltweit etwa 8,5 bis 8,6 Prozent aller Jugendlichen Symptome einer Gaming Disorder aufweisen [5]. Eine Studie der Nottingham Trent University vom Oktober 2025 ergab, dass einer von zehn Jungen während seiner formativen Jahre mindestens zeitweise unter problematischem Spielverhalten leidet [6]. In Deutschland klassifiziert eine DAK-Studie 15,4 Prozent der Minderjährigen als Risiko-Gamer – das entspricht 465.000 Kindern und Jugendlichen [7].

Regulierung nimmt Fahrt auf: Von der FTC bis zur EU

Die Entscheidung der FTC gegen Genshin Impact ist Teil einer größeren Bewegung. Die Behörde wirft Cognosphere nicht nur die Täuschung über Lootbox-Mechanismen vor, sondern auch Verstöße gegen den Children’s Online Privacy Protection Act (COPPA). Das Unternehmen habe Daten von Kindern unter 13 Jahren ohne elterliche Zustimmung gesammelt. Die Auflagen sind umfassend: Cognosphere muss alle Daten von unter 13-Jährigen löschen, die Wahrscheinlichkeiten für Lootbox-Inhalte transparent offenlegen und eine Direktkauf-Option für alle virtuellen Gegenstände anbieten, die auch in Lootboxen erhältlich sind [1].
In Europa arbeitet die EU-Kommission am Digital Fairness Act, der manipulative Praktiken in digitalen Produkten regulieren soll. Eine öffentliche Konsultation lief bis Oktober 2025, und die Kommission kündigte an, bis Ende 2025 einen Gesetzesentwurf vorzulegen [8]. Der Fokus liegt auf Dark Patterns und “addictive design” – also Designentscheidungen, die gezielt süchtig machendes Verhalten fördern. Lootboxen, Mikrotransaktionen und Mechanismen wie Infinite Scrolling stehen dabei im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Bereits in Kraft sind neue EU-Leitlinien zum Schutz Minderjähriger im Online-Umfeld, die auf Artikel 28 des Digital Services Act (DSA) basieren. Die österreichische Rundfunk und Telekom Regulierungs-GmbH (RTR), die als nationale Koordinatorin für digitale Dienste fungiert, veröffentlichte im Juli 2025 Details zu den Umsetzungsmaßnahmen [9]. Die Leitlinien nennen Loot-Boxen explizit als Gefahr und fordern Plattformen auf, Schutzmaßnahmen zu implementieren. Dazu gehören standardmäßig private Konten für Minderjährige, die Deaktivierung von Push-Nachrichten und Infinite Scrolling sowie das Verbot von KI-gestütztem Nudging – also der subtilen Beeinflussung durch künstliche Intelligenz.
Ein besonders innovativer Ansatz ist die Entwicklung der EU AV-App, einer Referenzlösung für anonyme Altersverifikation. Die App startet in fünf Mitgliedstaaten in eine Pilotphase und soll es ermöglichen, das Alter von Nutzerinnen und Nutzern zu überprüfen, ohne persönliche Daten wie Namen oder Geburtsdaten preiszugeben [9]. Für besonders risikobehaftete Dienste – darunter auch Spiele mit Glücksspiel-ähnlichen Mechanismen – werden verpflichtende Altersverifikationsmaßnahmen vorgeschrieben. Die bloße Selbsterklärung der Volljährigkeit durch Anklicken eines Dialogfeldes gilt künftig als nicht mehr ausreichend.

Zwischen Spielspaß und Geschäftsmodell: Eine kritische Einordnung

Die Gaming-Industrie ist ein Milliardengeschäft. Weltweit spielen etwa 3,5 Milliarden Menschen Videospiele, in Österreich greifen 5,8 Millionen Menschen regelmäßig zum Controller, zur Maus oder zum Smartphone [3]. Die allermeisten tun dies ohne negative Folgen – Gaming kann Kreativität fördern, soziale Verbindungen stärken und kognitive Fähigkeiten trainieren. Das Problem liegt nicht im Spielen an sich, sondern in bestimmten Monetarisierungsstrategien, die auf Manipulation und Ausnutzung psychologischer Schwächen setzen.
Kritikerinnen und Kritiker der verschärften Regulierung warnen vor Überregulierung. Der CEO von Supercell, einem der größten europäischen Spieleentwickler, äußerte im Oktober 2025 die Sorge, dass zu strenge Regeln gegen Dark Patterns die europäische Spieleentwicklung “töten” könnten [10]. Die Befürchtung: Wenn jede Form von Engagement-Mechanismus als manipulativ eingestuft wird, könnten innovative Spielkonzepte leiden. Tatsächlich ist die Grenze zwischen legitimen Game-Design-Entscheidungen und manipulativen Dark Patterns nicht immer trennscharf.
Dennoch zeigen die Zahlen, dass Handlungsbedarf besteht. Wenn fast jeder zehnte Jugendliche Symptome einer Gaming Disorder zeigt und Millionen von Kindern Zugang zu Glücksspiel-ähnlichen Mechanismen haben, ist das ein Problem, das gesellschaftliche Aufmerksamkeit verdient. Die Frage ist nicht, ob reguliert werden soll, sondern wie – und hier scheint sich ein Konsens abzuzeichnen: Transparenz über Kosten und Gewinnchancen, Schutz von Minderjährigen durch Altersverifikation und elterliche Zustimmung sowie das Verbot besonders manipulativer Praktiken.

Ausblick: Was Eltern wissen sollten

Für Eltern bedeuten diese Entwicklungen vor allem eines: erhöhte Aufmerksamkeit ist geboten. Kostenlose Spiele sind selten wirklich kostenlos – oft sind sie so designt, dass In-App-Käufe fast unvermeidlich werden. Wichtig ist, mit Kindern über die Mechanismen zu sprechen, Ausgabenlimits zu setzen und gemeinsam zu reflektieren, warum ein Spiel bestimmte Kaufanreize schafft. Die neuen Regulierungen werden helfen, die schlimmsten Auswüchse einzudämmen, aber sie ersetzen nicht die elterliche Begleitung und Medienkompetenz-Vermittlung.

Quellen

[1] Federal Trade Commission. (2025, 17. Januar). Genshin Impact Game Developer Will be Banned from Selling Lootboxes to Teens Under 16 without Parental Consent, Pay a $20 Million Fine to Settle FTC Charges.
[2] Veiga, E. et al. (2025). Dark Patterns in Games: An Empirical Study of Their Prevalence. SCITEPRESS.
[3] DER STANDARD. (2025, 9. Juni). Gaming zwischen Glücksspiel, Lootboxen und Vertrauen.
[4] ArXiv. (2024, 6. Dezember). Exploring How Dark Patterns Shape Mobile Games.
[5] Falcione, K. & Weber, R. (2025). Psychopathology and Gaming Disorder in Adolescents. JAMA Network Open.
[6] Nottingham Trent University. (2025, 7. Oktober). Long-term impact of excessive gaming on teens revealed in landmark study.
[7] DAK. (2024, 19. November). Computerspielsucht – komplett verzockt?
[8] Sidley Austin. (2025, 29. Juli). EU Consults on Digital Fairness Act: Big Changes Ahead for Consumer-Facing Platforms.
[9] RTR. (2025, 14. Juli). KommAustria informiert über neue Leitlinien der Europäischen Kommission für verbesserten Online-Jugendschutz.
[10] Game World Observer. (2025, 8. Oktober). The EU’s fight against dark patterns in games could “kill” European game development, says the head of Supercell.