„Wenn die Welt untergeht, ziehe ich nach Wien, denn dort passiert alles 50 Jahre später.“
Dieser Satz, wahrscheinlich von Stefan Zweig, wirkt charmant altmodisch, doch angesichts der Geschwindigkeit, mit der technologische Innovationen heute vorangetrieben werden, ist er erstaunlich aktuell. Das Rennen um die nächste große Errungenschaft wird gerade wieder neu eröffnet – diesmal um Künstliche Intelligenz, digitale Standards und die globale Technologieführerschaft. Doch müssen wir wirklich immer „Frontrunner“ sein?
In einer teleologisch-zielorientierten Perspektive erscheinen Frontrunner als jene, die das Ziel einer Entwicklung zuerst erkennen und darauf hinarbeiten. Sie nennen sich Vorreiter, die Innovationen schaffen und den Fortschritt antreiben. Doch was bedeutet das für die Gesellschaft? Kritiker sprechen von einem „amerikanischen Ideal“, das auf Geschwindigkeit und ständige Neuerung setzt, oft ohne die mittel- und langfristigen Folgen zu bedenken. Globalisierung hat dieses Modell in viele Teile der Welt exportiert – aber nicht jeder Fortschritt führt automatisch zu besseren Lebensbedingungen.
Die Probleme, die durch neue technologische Standards entstehen, sprechen eine deutliche Sprache. Die Soziologin Anu Bradford hat gezeigt, wie Innovationen soziale Ungleichheiten vertiefen können, wenn sie unreflektiert umgesetzt werden. Im Gegensatz dazu hebt in Bhutan der „Happiness-Faktor“ hervor, wie wichtig es ist, das Lebensglück der Menschen über wirtschaftliche oder technologische Ziele zu stellen. Und Spanien zeigt im „Better Life Index“, dass der Erfolg nicht allein im technischen Fortschritt liegt. Müssen wir uns also immer an die Narrative technischer Fortschrittsimperative halten?
Gerade die EU wird laufend von den „Frontrunnern“ kritisiert, ein Regulierungsapparat zu sein. Doch was, wenn diese Regulierung uns die Zeit gibt, die Dilemmata schneller Innovationen zu überdenken? Was, wenn genau dieses Tempo dazu beiträgt, die schädlichen Auswirkungen ungebremsten Fortschritts abzufedern?
Wir müssen „Nachzügler“ neu bewerten. Sie schaffen die notwendige Balance und sorgen für langfristige Anpassung. Nicht alle müssen oder sollten gleichzeitig Vorreiter sein. Nachzügler haben die Chance und die Zeit für Reflexion, die Fehler der Frontrunner zu vermeiden, Entwicklungen zu optimieren und nachhaltigere Lösungen zu finden. Und sie sorgen so für Stabilität und Nachhaltigkeit.
Wien hat sich trotz seiner gemächlichen Entwicklung eine hohe Lebensqualität bewahrt und wird laufend zur “Lebenswertesten Stadt der Welt“ gewählt. Kann man das von San Francisco und der Bay Area sagen, den Zentren technologischer Innovation? Trotz all ihrer Errungenschaften kämpfen sie mit immenser Armut und sozialen Ungleichheiten.
Durch die Geschwindigkeit, mit der Innovationen gerade entstehen, lohnt es sich, einen Schritt zurückzutreten und neue Technologien und Erfindungen mit etwas Distanz zu bewerten. Nachzügler sind nicht Bremser – sie haben die Fähigkeit für Reflexion und Nachhaltigkeit. Vielleicht sollten wir also fragen, ob Wien mit seinen „50 Jahren später“ nicht genau die richtige Perspektive bietet?