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Ein Blick in die USA zeigt, wohin Bildung steuern kann, wenn Technologie nicht als Werkzeug, sondern als Ersatz für Menschen verstanden wird. Die „Alpha School“ in Texas gilt in der Tech-Szene als Zukunftslabor – doch was dort passiert, ist weniger ein Fortschritt als ein warnendes Beispiel. Ein aktueller Bericht des US-Magazins WIRED zeigt, wie radikal Künstliche Intelligenz, Leistungsmetriken und Überwachung das Lernen ersetzen, das eigentlich Beziehung, Vertrauen und Empathie braucht.

Eine Schule, die sich selbst abschafft

In Brownsville, Texas, sitzen Kinder in stillen Räumen, jeder vor einem Laptop, betreut nicht von Lehrkräften, sondern von sogenannten „Guides“. Diese dürfen laut Schulleitung ausdrücklich nicht unterrichten. Wenn Schüler:innen gar nicht weiterkommen, können sie einen „Academic Coach“ per Video zuschalten – häufig eine Person am anderen Ende der Welt, etwa auf den Philippinen oder in Kolumbien. Von den 31 Coaches im Schuljahr 2023/24 waren laut WIREDmindestens 27 außerhalb der USA tätig, viele davon Angestellte von Firmen, die dem Alpha-Gründer und Tech-Investor Joe Liemandt zugeordnet werden können.

Die tatsächliche Vermittlung von Wissen übernimmt eine Software, der „AI Tutor“. Sie entscheidet, welche Aufgaben Kinder lösen müssen, und misst deren Fortschritt in Echtzeit. An der Wand hängen große Bildschirme, die den Leistungsstand der Schüler:innen als Kreisdiagramme zeigen – ein permanentes Ranking als tägliche Realität. „Effizienz“ ist das oberste Prinzip dieser Schule.

Lernen in der digitalen Skinner-Box

Das Alpha-System arbeitet nach einem Belohnungsprinzip, das an psychologische Experimente von B. F. Skinner erinnert. Für erledigte Aufgaben erhalten Kinder „Alphas“, eine interne Kryptowährung, mit der sie überteuerte Prämien erwerben können – etwa ein LEGO-Set für 350 Alphas, rund sechsmal so teuer wie im Handel. Wer erfolgreich ist, wird gefeiert. Wer scheitert, erlebt soziale und emotionale Konsequenzen.

Laut Elternberichten erzeugt dieser ständige Druck massive Belastungen. Kinder arbeiteten oft bis spät in die Nacht weiter, um ihre Ziele zu erreichen. Ein Vater berichtete, sein Sohn habe durch das System zwar Geld verdient, aber gleichzeitig unter Angstzuständen gelitten. Besonders erschütternd ist der dokumentierte Fall der neunjährigen Schülerin, die eine Mathematikaufgabe über zwanzigmal wiederholen musste. Sie brach weinend zusammen, verweigerte Essen und verlor deutlich an Gewicht. Snacks, die ihr Arzt verordnet hatte, wurden ihr von den „Guides“ verwehrt – sie habe sie „nicht verdient“.

Kontrolle bis in den privaten Raum

Hinzu kommt ein Überwachungssystem, das kaum Grenzen kennt. Alpha nutzt Software, die Bildschirm-, Maus- und Tastaturbewegungen aufzeichnet und teilweise Eye-Tracking einsetzt, um „Unaufmerksamkeit“ zu erkennen. Eltern werden gebeten, der Nutzung von Webcams auch zu Hause zuzustimmen – es sei denn, sie widersprechen ausdrücklich.

Eine Mutter schilderte gegenüber WIRED, wie ihre Tochter im Schlafanzug vor dem Laptop saß, kurz mit ihrer Schwester sprach und daraufhin eine Benachrichtigung erhielt, sie sei wegen eines „Anti-Patterns“ gemeldet worden. Das System hatte die Szene gefilmt und an die Schule übermittelt.

Was hier als „Lernkontrolle“ verkauft wird, überschreitet die Grenze zum Eingriff in die Privatsphäre.

Pädagogische Leere hinter digitaler Effizienz

Das Ergebnis dieser technokratischen Pädagogik: psychische Probleme, Bildungsdefizite und sozialer Rückzug. Schüler:innen berichten von Erschöpfung, Selbstzweifeln und Essstörungen. Die Schule rühmt sich, mit minimalem Personaleinsatz Bildung „skalierbar“ zu machen. Tatsächlich spart sie an genau dem, was Bildung ausmacht: Beziehung, Rückmeldung, Vertrauen. Das Modell mag kurzfristig kosteneffizient erscheinen, ist aber pädagogisch hochriskant. Es reduziert Lernen auf Datenpunkte und Kinder auf Kennzahlen.

Eine Frage der Verantwortung – nicht der Technik

Das Beispiel der Alpha School zeigt, wohin eine unregulierte KI-Nutzung führen kann, wenn wirtschaftliche Effizienz über pädagogische Ethik gestellt wird. Es ist ein Geschäftsmodell auf dem Rücken von Kindern – besonders problematisch, weil es sich ausgerechnet in einer einkommensschwachen, mehrheitlich hispanischen Gemeinde ausbreitet. Eltern fühlen sich laut WIRED als ‘Köder’ missbraucht.

Europa wählt einen anderen Weg. Der EU AI Act stuft Bildungssysteme ausdrücklich als Hochrisiko-Anwendungen ein [2]. KI-Systeme, die Lernverläufe bewerten oder Entscheidungen über Schüler:innen treffen, unterliegen strengen Anforderungen:

menschliche Aufsicht, Transparenz, geprüfte Datenqualität und Nachweis von Sicherheit.

Ein Alpha-ähnliches System wäre in der EU in dieser Form nicht zulässig.

Fortschritt braucht Grenzen

Die Alpha School ist kein Zukunftsmodell, sondern ein Warnsignal. Sie steht exemplarisch für eine Entwicklung, die Effizienz mit Bildung verwechselt und Kontrolle mit Fürsorge. Wenn Künstliche Intelligenz den Unterricht dominiert, ohne dass Lehrkräfte die Verantwortung behalten, verliert Schule ihren Kern: Menschlichkeit.

Europa hat erkannt, dass Innovation nur dort echten Fortschritt bringt, wo sie an Werte gebunden bleibt. Der AI Act ist keine Bürokratiebremse – er ist ein Schutzwall gegen Systeme, die Kinder wie Versuchspersonen behandeln.

Oder, wie man es einfacher sagen kann:

Technologie soll lehren helfen – nicht lehren ersetzen.

 

Mehr Hintergrund-Infos zu der WIRED-Story gibt es noch hier: https://terryu.substack.com/p/five-stories-buried-in-wireds-bombshell

 

Quellen

[1] WIRED (2025, 27. Oktober). Parents Fell in Love With Alpha School’s Promise. Then They Wanted Out.

https://www.wired.com/story/ai-teacher-inside-alpha-school/

[2] Europäische Kommission. AI Act.

https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/policies/regulatory-framework-ai