In einem historischen ersten Schritt zur Durchsetzung des Gesetzes über digitale Dienste (DSA) hat die Europäische Kommission eine Strafe von 120 Millionen Euro gegen die Social-Media-Plattform X (vormals Twitter) verhängt und damit ein unmissverständliches Signal an die Tech-Giganten gesendet: Die Zeit der mangelnden Transparenz und der unzureichenden Nutzer:innensicherheit in Europa ist vorbei.
Die am 5. Dezember 2025 bekannt gegebene Strafe ist die erste Nicht-Compliance-Entscheidung unter dem weitreichenden DSA und zielt auf drei spezifische, systemische Versäumnisse der Plattform ab, die nach Ansicht der Kommission die Grundrechte der Nutzer:innen untergraben und die öffentliche Debatte gefährden . Die Entscheidung folgt auf eine fast zweijährige Untersuchung und stellt einen Wendepunkt in der Regulierung digitaler Räume in der EU dar.
Die drei Kernverstöße: Mehr als nur ein blaues Häkchen
Die EU-Kommission begründet die empfindliche Strafe nicht mit einem einzelnen Fehltritt, sondern mit einem Bündel an Verstößen, die zusammengenommen ein ernsthaftes Risiko für die Nutzer:innen darstellen. Laut Medienberichten wird die Geldbuße wurde dabei auf die drei Hauptvergehen aufgeteilt, um deren jeweilige Schwere zu verdeutlichen.
|
Verstoß
|
Verhängte Strafe
|
Begründung der Kommission
|
|
Täuschendes Design des “blauen Häkchens”
|
45 Mio. €
|
Das käufliche Verifizierungssystem untergräbt die Authentizität und fördert Betrug und Manipulation.
|
|
Mangelnde Transparenz des Werbe-Repositorys
|
35 Mio. €
|
Fehlende Informationen über Werbetreibende verhindern die Analyse von Desinformationskampagnen.
|
|
Verweigerter Datenzugang für Forscher:innen
|
40 Mio. €
|
Die Blockade unabhängiger Forschung verhindert das Verständnis systemischer Risiken wie Hassrede.
|
Im Zentrum der Kritik steht die Praxis von X, das ehemals als Authentizitätsmerkmal geltende “blaue Häkchen” gegen eine monatliche Gebühr zu verkaufen. Die Kommission argumentiert, dass diese Praxis eine “irreführende Design-Praxis” darstellt, die es Nutzer:innen erschwert, die Echtheit von Konten zu bewerten. Dies setze sie einem erhöhten Risiko von Betrug, Identitätsdiebstahl und der Manipulation durch böswillige Akteure aus .
Zweitens bemängelt die Kommission das Werbearchiv von X. Ein transparentes und durchsuchbares Repository ist laut DSA entscheidend, damit Zivilgesellschaft und Forschung politische Kampagnen oder kommerziellen Betrug nachvollziehen können. X habe hier jedoch sowohl technische Hürden eingebaut als auch kritische Informationen, wie den Auftraggeber einer Werbung, vorenthalten.
Drittens wurde X für die Blockade des Zugangs zu öffentlichen Daten für unabhängige Forscher:innen bestraft. Der DSA schreibt diesen Zugang explizit vor, um systemische Risiken wie die Verbreitung von Desinformation und Hassrede wissenschaftlich untersuchen zu können. X habe dies durch seine Nutzungsbedingungen und technische Barrieren effektiv verhindert .
Die österreichische Perspektive: RTR als nationale Aufsichtsstelle
Für Nutzer:innen in Österreich hat diese Entscheidung eine direkte und greifbare Bedeutung. Mit dem Inkrafttreten des nationalen Koordinator für digitale Dienste-Gesetzes (KDD-G) am 17. Februar 2024 wurde die Rundfunk und Telekom Regulierungs-GmbH (RTR), genauer die KommAustria, als zuständige nationale Behörde eingesetzt .
Das bedeutet: Jede Person in Österreich, die der Meinung ist, dass eine Plattform wie X gegen die Regeln des DSA verstößt, kann sich direkt an die RTR wenden. Diese fungiert als zentrale Anlauf- und Beschwerdestelle und arbeitet eng mit der Europäischen Kommission zusammen, insbesondere bei grenzüberschreitenden Fällen, die sehr große Online-Plattformen (Very Large Online Platforms, VLOPs) wie X betreffen.
Die Strafe gegen X stärkt somit die Position der RTR und zeigt, dass Beschwerden von Bürger:innen auf europäischer Ebene zu konkreten Konsequenzen führen können. Es wird erwartet, dass die Zahl der Beschwerden bei der nationalen Aufsichtsstelle nun zunehmen wird, da das Bewusstsein für die neuen Rechte der Nutzer:innen wächst.
Internationale Reaktionen und der Kampf um die digitale Souveränität
Die Reaktion von X-Eigentümer Elon Musk auf die Strafe fiel erwartungsgemäß scharf aus. Auf seiner Plattform forderte er die Abschaffung der EU und warf dem Staatenbund Zensur vor . Unterstützung erhielt er von republikanischen Politikern in den USA, die von einer “Attacke auf amerikanische Tech-Plattformen” sprachen .
Diese Reaktionen verdeutlichen den größeren geopolitischen Konflikt, der hinter der DSA-Durchsetzung steht: der Kampf um die digitale Souveränität. Während die EU mit dem DSA einen wertebasierten Regulierungsrahmen für den digitalen Raum durchsetzt, der die Grundrechte der Nutzer:innen in den Mittelpunkt stellt, sehen Teile der US-Politik und der Tech-Industrie darin einen Angriff auf die freie Meinungsäußerung und wirtschaftliche Interessen.
Henna Virkkunen, die zuständige Exekutiv-Vizepräsidentin der EU-Kommission, konterte die Kritik mit klaren Worten:
“Mit der ersten Nicht-Compliance-Entscheidung des DSA machen wir X dafür verantwortlich, die Rechte der Nutzer:innen zu untergraben und sich der Rechenschaftspflicht zu entziehen. Das Täuschen von Nutzer:innen mit blauen Häkchen, das Verschleiern von Informationen über Werbung und das Ausschließen von Forscher:innen haben in der EU online keinen Platz.”
Ausblick: Ein Weckruf für die gesamte Branche
Die Strafe gegen X ist mehr als nur eine finanzielle Sanktion; sie ist ein Weckruf für alle (derzeit) 25 als “sehr groß” eingestuften Plattformen, die unter die strengsten Regeln des DSA fallen. Die EU hat demonstriert, dass sie bereit und fähig ist, ihre eigenen Gesetze durchzusetzen, auch gegen die mächtigsten Konzerne der Welt. Die Tatsache, dass die Strafe deutlich unter der maximal möglichen Höhe von 6 % des weltweiten Jahresumsatzes liegt, kann als Zeichen gewertet werden, dass die Kommission zunächst auf Verhaltensänderung statt auf maximale Eskalation setzt. X hat nun 60 bzw. 90 Tage Zeit, um Maßnahmen zur Behebung der Mängel vorzulegen. Gleichzeitig laufen weitere Untersuchungen gegen die Plattform, unter anderem wegen der Verbreitung illegaler Inhalte . Für Lehrkräfte und Eltern unterstreicht dieser Fall die Notwendigkeit, die Funktionsweise von Social-Media-Plattformen kritisch zu hinterfragen und die Kompetenz zu vermitteln, Authentizität und Vertrauenswürdigkeit von Online-Quellen stets neu zu bewerten – selbst wenn ein blaues Häkchen danebensteht.



